Zikade

Dieses Buch erhielt den LesePeter Dezember 2019. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien.

Zikade ist klein und unbedeutend, arbeitet in einem Großraumbüro im Hochhaus, schuftet ohne Anerkennung und Aussicht auf Beförderung. Vielmehr wird er, weil kein Mensch, schikaniert, benachteiligt und ausgebeutet. Seine anderen Kollegen, die wiederum alle Menschen sind, schauen auf ihn im doppelten Sinne herab und als er nach siebzehn Jahren in Rente geht, hat er nichts und auch nichts zu verlieren. Also geht er auf das Hochhausdach, und dort geschieht das Unerwartete: Statt sich in die Tiefe zu stürzen, öffnet sich Zikades Torso und ein neues Wesen schlüpft aus ihm heraus und fliegt davon, gemeinsam mit einer Masse anderer gleichartiger Wesen.

In Shaun Tans neuem Bilderbuch verbinden sich zwei Phänomene. Einerseits ist da das grausame Schicksal gesellschaftlicher Randgruppen, die von einer gesichts- und gewissenlosen sowie profitgierigen Wirtschaftsmaschinerie ausgebeutet werden, ohne Dank und Anerkennung ihrer Lebensleistung. Das Schicksal von Zikade ist hier nur allzu realistisch und auch ebenso dargestellt, was dem Bilderbuch eine ungeheure Wucht verleiht.

Gerade in der monströsen Verfremdung wird das realistische Potenzial der Geschichte herausgearbeitet und in Szenen gesetzt. Die Entwürdigung der Machtlosen nimmt eindrücklich Gestalt an. Dort bleibt Shaun Tan mit seinem Bilderbuch aber nicht stehen. Auf der anderen Seite ist es nämlich eine Hommage an die Insektengattung Magicicada aus der Familie der Singzikaden, die im Norden Amerikas lebt. Diese faszinierenden Tiere leben siebzehn Jahre unter der Erde, um plötzlich und in Massen als verwandelte Flügelwesen zu erscheinen. Dieses lange Leben im Dunkeln und die Vorbereitung auf eine plötzliche Verwandlung macht Shaun Tan zum Hoffnungsschimmer für seinen Protagonisten.

Es ist eine bittere Hoffnung, die gerade wegen ihrer grotesken Einzigartigkeit ebenso wunderbar wie unrealistisch ist. Und damit betont er das eigentliche Drama, das Menschen wie Zikade tagtäglich mitten in den vermeintlich zivilisierten Gesellschaften des Westens erleben. Betont wird diese Anklage auch durch die elliptisch verkürzten Sprechakte und die malerischen Ölbilder im typischen Stil des Künstlers. Das surrealistische Sujet der bürokratisierten Zikade im grauen Anzug wird in eine monumentalistisch überzeichnete Hochhausszene mit gleichsam naturalistischen Bildern eingebettet, die zumeist die Welt auf Augenhöhe der kleinen Zikade zeigen. So entwickelt das Bilderbuch eine zusätzliche Eindringlichkeit, die sich sicherlich auch an erwachsene Lesende richtet.