Vom Licht

Dieses Buch erhielt den LesePeter Juni 2018. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien.

Adam hat eine ungewöhnliche Jugend hinter sich. Er wurde von zwei Studierenden der Religionswissenschaft adoptiert, die mit ihm und seiner Schwester nach Österreich zogen. Dort konnte man seine Kinder zu Hause unterrichten. Adams Hausunterricht bestand zu einem großen Teil aus der Vermittlung einer kruden, religiös-fundamentalistischen Vorstellung, die den Alltag der Familie entscheidend prägte. Beginnend im Alter von 11 Jahren, erzählt er uns Schlüsselereignisse auf dem Weg zur Emanzipation von seinem Elternhaus. Durch seine Notizen versucht Adam zu verstehen, was mit seiner Familie geschehen ist, wie er der wurde, der er ist, und was er tun kann, um trotzdem weiterzuleben.

Der Autor des Romans, Anselm Neft, schrieb seine Magisterarbeit über Totenbeschwörung. Er ist bestens mit spirituellen Riten und Weltanschauungen vertraut. Das zeigt sich in der glaubwürdigen Konzeption des Glaubens, der im Mittelpunkt der Familie und damit des Romans steht. Jenes Weltbild erscheint dem Leser als irritierend, aber innerhalb seiner Prämissen zumindest zu Beginn als durchaus konsistent.

Diese Qualität der Konstruktionen ist maßgeblich für das hohe emanzipatorische Potential des Textes. Der Leser hat dank ihr die Gelegenheit, sich mit einer Ideologie auseinanderzusetzen, die nicht durch Verurteilung oder Affirmation vorab normativ belegt ist. Man bewegt sich somit kulturell in völlig fremden Gewässern und kann sich nur auf seinen Verstand als Kompass verlassen. Das macht die Lektüre anspruchsvoll, aber überaus gewinnbringend.

Die Komplexität des Romans und seine literarische Qualität werden ferner durch die Ambivalenz aller Figuren sowie ihre stete Entwicklung konstituiert. Zu Beginn ist Adam noch kindlich naiv. Seine große Schwester fängt da bereits an, sich von den Vorstellungen des Elternhauses zu emanzipieren. Beim Lesen fragt man sich durchweg, wie Adam den Absprung aus der kleinen Sekte ebenso schaffen könnte. Die Anziehungskraft eines geschlossenen Weltbildes wird als Hindernis besonders in einem Kapitel greifbar, in dem eine Stunde des zu Hause stattfindenden Religionsunterrichts recht ungefiltert nachgezeichnet wird. Die Mutter als Lehrerin bringt ihre Kinder zum Nachdenken. Es herrscht eine offene und produktive Atmosphäre. Alles wirkt, als könne diese Form des Lernens und der Erziehung für Adams Entwicklung nicht schlecht sein. Als Adam dann aber für den Leser seine zentralen Erkenntnisse niederschreibt, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es handelt sich durchweg um Vorstellungen, die so krude ausfallen, dass die Erziehung Adams als das erscheint, was sie ist: Gehirnwäsche. Da diese jedoch gerade nicht geistlos geschieht, sondern durch ständiges Infragestellen aller Gewissheiten, macht den Roman doppelbödig und selbstreferenziell. Auch er ist durch und durch geistvoll.

Doch er klammert Emotionen nicht aus. Die beiden Kinder werden fern gehalten von “Fleischmenschen”, die den fleischlichen Verlockungen des Lebens erliegen. Adam und seine Schwester sollen “Geistmenschen” werden und dem Licht und damit dem Himmel näher kommen. Menschen sind jedoch keine rein analytischen Maschinen. Das wird durch die intensiven Beziehungen zwischen den Figuren deutlich. Auch diese sind schwierig zu fassen. Spürt man ab und an die Fürsorge der Eltern? Meinen sie es mit ihren Kindern nur gut? Glauben sie selbst an ihre Lehren? Oder benutzen sie ihre Kinder nur für ein zum Scheitern verurteiltes Experiment?

Im Laufe des Romans erfährt man nach und nach von der Vorgeschichte der Eltern, ihren zerrütteten Familien und ihren Motiven des Ausstiegs und der Isolation. So wie Adam sich seine Welt erschließt, gelingt das auch dem Leser.
Wenn Adams Schwester mit ihrem Freund zusammenzieht, scheint der innerfamiliäre Zusammenhalt ebenso wie das Gedankengebäude erstmals zu bröckeln. Der Weg zur Emanzipation ist aber lang. Dass dieser nicht nur fordernd, sondern auch spannend bleibt, liegt an der überraschenden Eskalation der Ereignisse und an Nefts sprachlicher wie gedanklicher Präzision. So wird “Vom Licht” zu Literatur im besten Sinne, zu einem “Lebensweltsimulator mit Experimentierfunktion” (Stefan Matuschek). Gerade in einer postfaktischen Welt der Narrative sollten Heranwachsende Adam auf seinem Weg in die Unabhängigkeit begleiten. Sie werden ihren Verstand schärfen und gleichzeitig die Grenzen reiner Rationalität erfahren.