Mehr Schwarz als Lila

Dieses Buch erhielt den LesePeter Februar 2018. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien.

Es geht in „Mehr Schwarz als Lila“ um einen Kuss, um Freundschaft und irgendwie auch um Auschwitz. Mehr weiß man zu Beginn nicht. Nur das noch, dass die Erzählerin nach dem Anfang der Geschichte sucht, an deren Ende Paul weg ist.

Die 1981 geborene Lena Gorelik erzählt in fesselnder und tiefgründiger Weise von dem Leben der überforderten 17-jährigen Alex, die eigentlich Alexandra heißt, von Ratte, die eigentlich ganz anders heißt, und von dem sensiblen Paul. Alex, Ratte und Paul sind wie eine Familie füreinander. Alle anderen Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse bleiben eine namenlose Masse, die nur mit Siglen wie D, K oder F von der Erzählerin bezeichnet werden. Und die Freundschaft der drei ist für sie alle aufgrund ihres biographischen Päckchens von großer Wichtigkeit.

Dass diese Freundschaft aber zum Zeitpunkt des Erzählens bereits einen Bruch erlitten hat und dass Alex dazu nicht unwesentlich beigetragen hat, das erfährt der Leser nach und nach. Ferner verrät die Erzählsituation, dass noch eine weitere Person am Geschehen beteiligt sein muss, denn Alex adressiert ein zunächst namenloses Du, dass später als Jonny eingeführt wird. Jonny ist ein Referendar, der die Klasse von Alex, Ratte und Paul übernimmt und auf äußerst unkonventionelle Weise führt. Sein Problem: Er kann keine professionelle Distanz zu seinen Schülerinnen und Schülern halten. Und so wird er zusehends Teil der 3er-Gruppe und verschiebt damit alle Beziehungen nachhaltig. Teil nimmt er so auch an den Spielen der Gruppe, die in Mutproben bestehen und ihren Reiz daraus gewinnen, den anderen an den Abgrund heranzuführen, ihn aber nicht zu stoßen. Diese radikale und perfide Variante von Wahrheit oder Pflicht beendet die Langeweile von Alex, Ratte und Paul, die mit dem Warten auf das Leben einhergeht.

Alles erhält nun eine andere Dynamik, als Alex sich in Jonny verliebt, Paul mehr und mehr für Alex empfindet und Ratte sich in S, ein Mädchen aus ihrer Klasse verliebt. Was bis hierhin eine großartige Studie über Freundschaft sowie über die Zwischenzeit zwischen Kindheit und Erwachsensein ist, erhält im vierten Teil, in dem die Klasse nach Auschwitz reist, eine zusätzliche Dimension. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager überschreitet eines der Spiele alle Grenzen und endet in einem leidenschaftlichen Kuss zwischen Paul und Alex. Ein Foto dieses Kusses vor einem Galgen der Gedenkstätte verbreitet sich in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer.

Der Roman von Lena Gorelik verlangt Jugendlichen Lesern einiges ab. Denn “Mehr Schwarz als Lila” ist wie bspw. Herrendorfs “Tschick” ein Roman für Jugendliche, der auch von Erwachsenen mit viel Freude und obendrein mit Gewinn gelesen werden wird. So thematisiert Gorelik auch auf innovative Weise Fragen der Angemessenheit von Erinnerung: “Pietätlos, schamlos, Sittenverfall, missratene Jugend, die trauen sich was, Verfall der Jugend, wie geil ist das denn, ordinär, heiliger Ort, voll krass ey, das Ende des Anstands” (207) und so weiter, lauten die Kuss-Kommentare im Internet.

Aber Alex geht es nicht um Erinnerungskultur. Sie verspielt auf der Gedenkstätte – psychologisch hoch authentisch entwickelt –, was bisher ihr Leben zusammengehalten hat. Und zur Darstellung der fragilen Lebenskonstruktion einer 17-jährigen findet Gorelik eine beeindruckend knappe Sprache, die zugleich emotional tiefgehend und poetisch daherkommt. Erzählt wird im Grunde ein alter Plot: Was, wenn aus Freundschaft Liebe wird? Was macht Liebe aus Freundschaft? Die Art zu erzählen, die Suche nach dem Anfang der Entwicklung, die zum Kuss in Auschwitz führt, braucht keine Effekte um zu wirken. Einfach brillant!