Jenseits des Meeres

Dieses Buch erhielt den LesePeter Juni 2016. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien.

In seinem Debütroman erzählt der britische Autor Jon Walters eine tief ergreifende Fluchgeschichte. Malik und sein Großvater sind auf der Flucht. Soldaten haben Maliks Mutter entführt und es bleibt nur noch eine einzige Möglichkeit das Land zu verlassen: Im Hafen liegt das Schiff Samariter. Die Fahrkarten aber sind rar und werden zu horrenden Preisen verkauft. Die Hoffnung, noch eine Fahrkarte zu ergattern, steckt im Zahn des Großvaters – vorsorglich hat sich der Großvater einen Zahn mit einem Diamanten füllen lassen. Doch auch diese Hoffnung schwindet, als der herausgebrochene Zahn gestohlen wird. Der Preis, den der Großvater schließlich zahlt, um seinem Enkel die Flucht mit dem Schiff zu ermöglichen, ist hoch: Er verkauft seine Integrität und seine Wahrhaftigkeit. Und Malik gelingt es nur mit Hilfe der Zaubertricks, die sein Großvater ihn gelehrt hat,den Diamanten zurückzugewinnen.

Als Leser dieses Romans hat man das Privileg, unmittelbar und dennoch ohne tatsächliche Gefahr für Leib und Seele an den Gefühlen teilhaben zu dürfen, dass einem alles auf der Welt genommen wird. Man erlebt mit, wie ein Kind mit den Verlusten und Ängsten der Flucht umgeht. Worin es Hoffnung findet. Man erleidet mit ihm Vertrauensbrüche und genießt die Wärme der Sicherheit. Kurz: Man macht Erfahrungen, die man sich wünscht, nie am eigenen Leibe zu sammeln. Und darin liegen der Wert und der Beitrag dieses wichtigen Jugendromans.

Bei Janne Teller heißt es im Nachwort zu ihrem fiktiven Essay “Krieg. Stell dir vor er wäre hier”: “Nur menschliches Handeln kann Leben retten. Doch die Literatur kann Verständnis und Empathie wecken und stärken, die wir für menschliches Handeln brauchen.” Und weiter fragt sie: “Sollten Menschen, die in Not sind, nicht so behandelt werden, wie wir es in der Not für uns wünschen?” Dies setzt aber voraus, sich vorstellen zu können, wie es sich anfühlt, auf der Flucht zu sein. Während ein editorischer Kunstgriff es ermöglicht, dass man mit “Krieg. Stell dir vor, wer wäre hier” ein deutsches, dänisches, italienischen, französisches o.a. Flüchtlingsdrama lesen kann, lässt Jon Walters offen, um welchen Krieg es sich in seinem Roman handelt, um welches Land und welche Zeit. Sein Roman arbeitet mit dem Gegenteil zu den länderspezifisch modifizierten Ausgaben, wodurch die Erzählung universellen Charakter besitzt.

Nicht nur aber besonders der erste Teil des Romans ist von schier zahllosen Fragen Maliks durchsetzt. Der Drang Maliks zu fragen ist zum einen Spiegel seiner inneren Verunsicherung. Gleichzeitig haben die Fragen aber auch eine wichtige Funktion in der Art der Darstellung des Erzählten. Erzählt wird die Geschichte nämlich von einem heterodiegetischen Erzähler, der seinen Erzählstandort wechselnd hinter Malik oder hinter dem Großvater einnimmt. Als Leser ist man dadurch mal ganz nah am Großvater und mal ganz nah an Malik dran und nimmt die Welt mit wechselndem Blick wahr. Obwohl der Erzähler kaum in die Innenperspektive der Figuren wechselt (man spricht von einer externen Fokalisierung), bietet der wechselnde Erzählstandort einem die unterschiedlichen Perspektiven von Malik und dem Großvater zur Übernahme an. Vielleicht ist es gerade diese Angebotshaltung, die Aufforderung, die Innenperspektive selbstständig auszugestalten, die das tiefe Einsteigen und Einfühlen ermöglicht. Wenn man nämlich vor der – ohne Frage – hohen Anforderung nicht zurückschreckt, sich subjektiv in die Geschichte zu involvieren und gleichzeitig den Text genau wahrzunehmen, dann eröffnen sich ein besonderes Spannungserleben und Ergriffensein. Der Standortwechsel des Erzählers und die Aufforderung beide Perspektiven parallel auszugestalten, bieten dem Leser ein Wissensvorsprung vor Malik: Man ahnt und weiß mehr, als Malik, und erlebt die Antworten, die der Großvater auf die Fragen Maliks gibt, mit einem erdrückenden Spannungsempfinden. Das Fragen Maliks ist somit auch eine Strategie, um den Leser die Zerrissenheit des Großvaters erlebbar zu machen.

Im Vergleich zu den ersten beiden Teilen des Romans fällt der dritte Teil, der das Ankommen im Aufnahmeland thematisiert, deutlich ab. Hier neigt die Erzählung zu melodramatischen Zügen, die etwas zu direkt auf das Happy End hinsteuern. In diesem Teil vermisst man, dass Jon Walter Themen wie z.B. sprachliche Barrieren oder kulturelle Fremdheit nichtmit der gleichen Subtilität aufgreift und vor dem psychologisch-kognitiven Horizont eines Zehnjährigen verhandelt, wie er es in den ersten Teilen mit den Themen Angst, Heimat und Flucht bravourös leistet.

Davon abgesehen, liest man mit diesem Roman eine einfühlsam erzählte Fluchtgeschichte, die hoffentlich viele Leser erreicht. Denn vor dem Hintergrund der sich wiederholenden Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland erscheint es dringend erforderlich, die Geschichten und Perspektiven derer zu kennen oder besser noch nachzuempfinden, die bei uns Zuflucht suchen: Anhand dieser Geschichte können nicht nur Jugendliche etwas davon erahnen, wie es vielen heimatlosen Menschen gerade geht. Dieses Buch leistet einen wichtigen Beitrag!