Exit Sugartown

Dieses Buch erhielt den Heinrich-Wolgast-Preis 2017. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Die siebzehnjährige Dawn hat genug von der aufzehrenden, aber letztlich ertraglosen Arbeit und dem ärmlichen Leben in Sugartown. Nach dem Tod ihrer Mutter schmeißt sie trotz ausgezeichneter Noten die Schule und übernimmt deren Job als Näherin. Obwohl sie jeden Tag bis tief in die Nacht hinein hart arbeitet, reicht das erwirtschaftete Geld für sie und ihren kleinen Bruder Charlie nicht einmal für das Nötigste. Auf die Hilfe des Vaters, der seinen Frust über die gescheiterte berufliche Existenz im Alkohol zu ertränken versucht, ist nicht zu zählen. Schließlich muss auch ihr Bruder die Schule verlassen und in einem Ziegelwerk harte Knochenarbeit verrichten. In der Hoffnung auf ein einträglicheres Einkommen und ein besseres Leben in City, einer reichen Stadt jenseits des Meeres, legt sie ihr Schicksal schließlich in die Hände von Fluchthelfern, die ihr einträgliches Geschäft freilich nicht aus reiner Menschenliebe betreiben. Es folgt eine Reise voller Strapazen und Gefahren, in der natürliche und von Menschen geschaffene Grenzen und Hindernisse überwunden werden müssen. Endlich in City angekommen wird ihr Traum, sich und ihrer Familie durch eine menschenwürdige Arbeit ein gesichertes Leben zu ermöglichen, jedoch auf eine harte Probe gestellt.

Denn schon ihr Empfang jenseits der Grenze lässt nichts Gutes erahnen. Die Flüchtenden werden in einem provisorischen Lager untergebracht, dessen Zustände katastrophal und menschenunwürdig sind. Das Wachpersonal und ein hoher Stacheldrahtzaun sollen verhindern, dass die Ankommenden diesen Ort einfach so wieder verlassen können. Doch trüge sie ihren Namen nicht zurecht, wenn ein Zaun sie aufhalten könnte, den Traum von einem besseren Leben nun endlich in die Tat umzusetzen. Einerseits steht sie in der Schuld ihrer Schleuser, welche ihr bei der Überwindung der zahlreichen natürlichen wie menschengemachten Grenzen geholfen haben und benötigt daher dringend einen Job. Doch sie muss nicht nur die Gläubiger zufriedenstellen, sondern auch ihre Familie finanziell unterstützen. Sie will dafür sorgen, dass ihr kleiner Bruder wieder die Schule besuchen kann, anstatt in der Betonfabrik Knochenarbeit zu verrichten. Ihr Ausbruch aus dem Lager ist jedoch teuer bezahlt, denn sie gilt nun als Illegale. Ohne regulären Aufenthaltsstatus und damit ohne jegliche Rechte ist sie den ausbeuterischen und kriminellen Machenschaften ihrer Verbindungsleute schutzlos ausgeliefert. Als sie versucht, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, verstrickt sie sich nur noch stärker in ein Netz aus Verbrechen, Verrat und Verfolgung.

Der Roman erzählt eine Geschichte, die an Aktualität, Universalität und politischer Virulenz kaum zu überbieten ist: Sugartown ist nicht Sugartown, sondern nur ein Name, der dem Elend und der Perspektivlosigkeit unzähliger Menschen auf dieser Welt eine konkrete Gestalt verleiht. Menschen sterben an gewöhnlichen Krankheiten, weil Medikamente entweder fehlen oder nicht bezahlbar sind. Die grauen Gasbetonwände der Wohnhäuser riechen nach dem Schweiß ihrer in den umliegenden Fabriken schuftenden Bewohner. Doch andere Formen der Erwerbsarbeit werden rar, denn importierte Billigware – ein Effekt des vielgepriesenen Freihandels – überschwemmt die heimischen Märkte und macht die ansässigen Handwerker arbeitslos. Ob mit oder ohne Arbeit – Elend und Armut haben in den Gesellschaften der sogenannten Dritten Welt viele Gesichter.

Auch City ist nicht City, sondern verkörpert als Sehnsuchts- wie Alptraumort der Flüchtenden die Erste Welt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Die Stadt, welche ihnen zunächst alle Möglichkeiten des Aufstiegs zu bieten scheint, betreibt eine paradox anmutende Politik der Ausschließung und der gleichzeitigen Ausbeutung der Arbeitsmigranten. Rigide Grenzregime sollen das unkontrollierte Übertreten der Landesgrenzen unmöglich bzw. so schwer wie möglich machen. So werden die Flüchtenden auf immer längere und gefährlichere Passagen gedrängt; mit der Folge, dass jährlich Tausende von ihnen beim Einreiseversuch nach Europa im Mittelmeer ertrinken. Denjenigen, denen die Einreise dennoch gelingt, werden aufgrund ihres rechtlosen Status nicht selten Opfer ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse in den Dienstleistungen der Schattenwirtschaft, die – so zeigen Schätzungen – mehr als ein Zehntel unseres Bruttoinlandsprodukts umfassen. Und schließlich ist Dawn nicht Dawn. Ihr Name (dt.: Morgendämmerung) steht sinnbildlich für all jene, die sich mit ihrem Zustand nicht abfinden wollen und auf den Weg in eine vermeintlich bessere Zukunft machen.