Erna und die drei Wahrheiten

Dieses Buch erhielt den LesePeter September 2017. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien.

Erna hat die gleichen Probleme, wie viele Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren. Sie findet sich zu dick, zumindest an den Oberschenkeln. Sie mag ihren Namen nicht. Wenn sich ihre Eltern streiten, sorgt sie sich, dass es etwas Ernstes ist. Und sie hat Stress mit ihren Freundinnen, weil sie manches anders sieht, als diese. Besonders an Erna ist tatsächlich ihr Name, der sehr selten ist, selbst in einer Zeit, in der alte Namen wieder attraktiv sind. Viel seltener, vielleicht einzigartig, ist ihre Leidenschaft für Wörter und Wörterbücher. Wenn sie ein Wort nicht kennt, schlägt sie es in ihrem Wörterbuch nach und lässt den Leser daran teilhaben: “Begleiten ist ein schöner Begriff, weil gleiten darin steckt. Gleiten heißt, sich mühelos auf einer Fläche fortbewegen.” Auch Redewendungen werden so erklärt. Die Kapitelüberschriften sind meist einzelne Worte, deren Bedeutung Erna sich erschließt.

Besonders problematisch ist für sie das Verhalten der Erwachsenen, die so tun, als wären alle gleichberechtigt. Wenn das dann nicht so funktioniert, wie Lehrer und Eltern es sich vorstellen, sind sie wieder autoritär und bestimmen. So wird in der Schule eine neue Pausenregelung eingeführt. Dies geschieht ohne Beteiligung der Schüler, nachdem einige Klos verstopft worden sind. Auch werden die Mitschüler dazu angehalten, den Täter zu verpetzen. Das sei dann nicht verpetzen, sondern Mitverantwortung. Erna spürt jedoch genau, dass dies so nicht stimmt, und stellt sich dem tapfer entgegen. Echte Demokratie ist eine große Herausforderung! Obwohl sie weiß, wer die Klos verstopft hat, sagt sie nichts. Soll derjenige doch damit leben, dass alle in der Schule seinetwegen auch bei Regen auf den Schulhof müssen - eine der neuen Pausenregeln!

Als Erna nach dem Lerngruppenrat bereits verzweifelt ist, bekommt sie Unterstützung von Bence. Schon beim Schulfasching ist sie auf ihn aufmerksam geworden. Da hat er ganz allein getanzt und hat sich nicht darum gekümmert, was die Anderen dazu sagen. Bence verrät ihr, dass alle Jungen wissen, wer die Klos verstopft hat und dass sie auf die Jungen verweisen soll, wenn sie wieder gefragt wird. Er befreit sie so von der Verantwortung, und Erna spürt, dass ihr Bauchgefühl die ganze Zeit richtig war. Auch spürt sie in der Nähe von Bence, wie wohl sie sich fühlt und wie gern sie mit ihm zusammen ist. Und weil er Ungar ist und kein Mensch ungarisch lernt und weil sie Sprache mag und Bence auch, beginnt sie seine Sprache zu lernen. Dies ist eine besonders schöne Art jemandem zu zeigen, dass man ihn sehr mag.

Erna ist ein durch und durch sympathisches Mädchen, die ich gern zur Freundin hätte, auch oder gerade, weil sie ihre Fahne nicht in den Wind hängt. Dieses Buch ist ein Hoch auf autonome, selbstbewusste Kinder! Die Auseinandersetzung mit einem so wichtigen aber auch schwierigen Thema wie Demokratie gelingt der Autorin ausgezeichnet. Dafür nutzt sie die Metapher unterschiedlicher Wahrheiten, die jeder so verwendet, wie er es für richtig hält. Es werden die verschiedenen Zutaten für moralisch korrektes Verhalten herausgearbeitet. So ist auf der einen Seite die lebensphilosophische Grundhaltung (im Buch: Wir haben uns alle lieb), auf der anderen Seite die ganz natürliche Sympathie und Antipathie zwischen Menschen und das wichtige Bauchgefühl, was richtig und falsch ist. Dazu kommen Regeln und Gesetze, deren Auslegung auch unterschiedlich ist. Ganze Bücher werden mit Kommentaren zu Gesetzen geschrieben! Und doch wird klar, wie wichtig es ist, seine eigene Position zu haben und nicht gegen sein Bauchgefühl zu handeln. Das ist die unmissverständliche Botschaft des Buches. Courage ist gefragt!

Ernas Leidenschaft für besondere Wörter inspiriert, sich mit unbekannten Worten auseinanderzusetzen. Sie regt an, neugierig zu sein und neben schulischem Lernen seinen individuellen Interessen und offenen Fragen nachzugehen. Diese Leidenschaft macht Erna besonders, so auch den Jungen Bence, den es wenig interessiert, was andere über ihn denken, wenn er Lust zum Tanzen hat. Dazu gehört Selbstvertrauen, welches man unter anderem dann erlangt, wenn man sich mit oben beschriebenen Fragen auseinandersetzen kann und sein Bauchgefühl nicht ignoriert.