Eine Schwester

Dieses Buch erhielt den LesePeter Juni 2020. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien.

Antoine fährt wie jedes Jahr mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder Titi in den Sommerurlaub. Dieses Mal hat seine Mutter ihre Freundin eingeladen, die einen Schicksalsschlag verkraften muss und Ablenkung bitter nötig hat. Die Freundin bringt ihre Tochter Hélène mit. Das pubertierende Mädchen interessiert sich für Jungen und für ihr Smartphone und muss nun mit den beiden kleineren Kindern ihre Sommerferien verbringen.

Bereits das Cover des Bandes kündigt sowohl das zentrale Thema als auch den außergewöhnlichen Zeichenstil Vivés’ an. Wir sehen einen dem Betrachter oder der Betrachterin abgewandten Antoine, der ganz vertieft an seinen Zeichnungen arbeitet, während die extrovertierte Hélène in Bademode und mit Sonnenbrille auf ihr Smartphone schaut. Sie versteckt ihre Augen hinter der coolen Fassade. Die Augen Antoines bleiben uns hier jedoch ebenso verborgen, obwohl seine Sitzhaltung einen Eindruck ermöglichen müsste.

Bastien Vivés betont, indem er weglässt. So zeigt er häufig nur den Gesichtsausdruck derjenigen Person, die im jeweiligen Panel im Mittelpunkt steht. Andernorts lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf die gesprochenen Wörter, oder auch auf die Körperhaltungen der Figuren. Diese Formen der Betonung reichen bis zur maximalen Reduktion der Darstellung, wodurch die Gestaltergänzung der Betrachtenden herausgefordert wird und auf diese Weise gerade die weggelassenen Elemente in den Fokus geraten. Dieser fast schon zögerliche und zum leisen Antoine passende Zeichenstil vermittelt durchaus explizite Inhalte. Antoine erfährt den ersten Rausch und den ersten Sex. Es ist den vielschichtigen Beziehungen zwischen den Figuren und der reichhaltigen Figurenentwicklung zu verdanken, dass die expliziten Panels – aus denen wohl auch das empfohlene Lesealter ab 16 Jahren resultiert – nicht das Leseerlebnis dominieren.

Antoine entwickelt sich zum Beispiel auch in seiner Rolle als großer Bruder weiter. Darüber hinaus wird er durch die Thematisierung des Schicksals von Fehlgeburten, das sowohl seine Mutter als auch jene Hélènes teilen, mit existentiellen Fragen konfrontiert. Die damit verbundene Tiefe der Figuren, welche nicht nur in den polyvalenten Lücken der Zeichnungen widerhallt, bleibt den Leserinnen und Lesern im Gedächtnis. Dafür hätte es den irritierenden Titel, der aus dem französischen Original une sœur wörtlich übersetzt wurde und fast zwingend inzestuöse Assoziationen weckt, nicht gebraucht.