33 Bogen und ein Teehaus

Dieses Buch erhielt den LesePeter Februar 2017. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien.

Dem Leser sticht zu allererst der geheimnisvolle Titel ins Auge, bevor die angenehm zurückgenommenen und dennoch wirkungsvollen, schattenspielartigen Illustrationen die Neugier weiter beflügeln. Und ohne dass man schon in die Welt der kleinen Mehrnousch eintaucht, bremst die bildreiche Sprache des Prologs die Lesegeschwindigkeit, wodurch sich ihre Poetizität weiter entfaltet und die Aufmerksamkeit des Lesers die dem Text gebotene Intensität erreicht. Diese Qualität der Sprache durchzieht das gesamte Buch, die überraschende Rahmung durch die Geschehnisse in Tschernobyl ebenso wie die kurzen, kindgerechten und fantasievollen Erläuterungen vor jedem Kapitel zur Topografie der Haltestellen auf Mehrnouschs Weg.

Mehrnousch saugt ihre Umgebung auf kindliche, einfach verständliche Weise ein, in all ihrer Komplexität des Augenblicks. Die Autorin versteht es, diese Eindrücke mit einer Vielzahl von Anekdoten zu verknüpfen, die dem Leser wie der kleinen Mehrnousch in Erinnerung bleiben, sei es Heiteres wie das Entsetzen über den Geschmack von Schnapspralinen oder Magisches wie das Marionettentheater im KaDeWe. Dabei kontrastiert die kindliche Wahrnehmung hin und wieder die der Erwachsenen, zeigt Neugier neben Ernüchterung, Hoffnung neben Hoffnungslosigkeit. Zeitgeschichtliche Fakten erfahren wir des Öfteren durch von Mehrnousch mitgehörte Dialoge der Erwachsenen. So wird der Text beeindruckend dicht und kombiniert persönlich Bedeutsames mit historischer Fundierung.

Beides hat hohen Wert für die interkulturelle Bildung. Wir erlesen viel Eigenes im Fremden und bekommen die Schwierigkeit aufgezeigt, sich in einer fremden Kultur zurecht zu finden, zum Beispiel wenn die gastfreundschaftliche persische Familie einen Staubsaugervertreter festlich bewirtet oder der deutsche Taxifahrer nicht bereit ist, 6 Personen im Luxus-Mercedes mitzunehmen, und damit auf lautstarken Protest seitens Mehrnouschs Vaters stößt.

Der Text ist durch die Höhen und Tiefen der langen Odyssee geprägt, an deren Ende klar wird, wie viel die Eltern für ihre Kinder opferten, wahrscheinlich ohne selbst jemals richtig in Deutschland anzukommen. Der Leser erlebt diese für Mehrnosuch intensive, rastlose Zeit hautnah mit. Wenn sie sich integriert fühlt, weil sie aus der Ansage des Schulrektors sofort entnehmen kann, dass es Pommes in der Schulkantine gibt, und nun auch zeitgleich mit ihren Mitschülern jubelt, freut sich der Leser mit. Wenn dagegen von iranischen Kindersoldaten mit roten Stirnbändern die Rede ist, welche dazu gedrillt werden, schneller als mürrische Esel die Minen aus dem Weg zu räumen, wonach man ihren Eltern zum Märtyrertod der Kinder brieflich gratuliert, bekommt man eine leise Ahnung davon, wieso die Flucht gerade für die älteren Brüder und Cousins Mehrnouschs alternativlos war. Dabei verschweigt der Text keine Probleme, ist aber niemals laut und hat Momente der Subtilität und Einkehr.

Die Aufzählung der bewegenden, unvergesslichen - zu keiner Zeit rührseligen - Anekdoten sprengt den Rahmen einer Rezension, trotz der geringen Seitenanzahl des Romans. Allein das ist Grund genug, Mehrnousch auf ihrem Weg zu begleiten.