Sturm

Dieses Buch erhielt den Heinrich-Wolgast-Preis 2021. Die Veröffentlichung der Begründung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Christoph Scheuring gelingt in seinem Jugendroman Sturm eine überaus überzeugende literarästhetische Verknüpfung von Arbeitswelten mit Themen der Nachhaltigkeit, der Meeresökologie sowie der weitgehend verlorengegangenen Harmonie zwischen Mensch und Natur. Mit schonungsloser Offenheit erzählt er von den Abläufen in einem konventionellen Schlachthof und in der Hochseefischerei. Damit fordert er die LeserInnen eindringlich dazu auf, den Klimawandel radikal und ganzheitlich zu denken.

Die 17jährige Nora, Heldin und Ich-Erzählerin des Romans, schützt sich vor den Zumutungen des Aufwachsens in ihrer vom prügelnden und trinkenden Vater dominierten Familie und der ihr aufgezwungenen Außenseiterrolle in der Schule durch eine radikale Liebe zu den Tieren. Stark, mutig und wortgewandt setzt sie sich, wie es besonders für die Jugendjahre typisch ist, für den Tierschutz ein. Ihren Mitmenschen gegenüber ist sie oft abweisend und irritiert viele durch ihre direkte und schlagfertige Art.

Ihr Vater bewegt sich mit seiner kleinen Spedition immer am Rande des Ruins und versucht seine Dämonen mit Alkohol zu bekämpfen, was dazu führt, dass er regelmäßig Noras Mutter rücksichtslos prügelt. Nora versucht in solchen Situationen unsichtbar zu sein. Eines Tages aber eskaliert die Situation und Nora, des Vaters “Goldstück”, schlägt zurück. Ihre Mutter verlässt die Familie. Nora lässt das kalt, denn niemals hat ihre Mutter sie gegen den Vater oder irgendjemand verteidigt. Immer war sie nur darum besorgt, das Bild einer heilen Familie in der Öffentlichkeit zu bewahren. Jetzt aber bestimmt Nora selbst: “Nachgeben, nur weil der andere dümmer oder stärker oder ein Mann ist, funktioniert einfach nicht. […] Und schon mal gar nicht funktioniert es gegenüber Verbrechern oder Politikern oder besoffenen Typen. Auch unsichtbar oder leise sein führt nirgends zum Ziel […]. Ich wollte nicht mehr unsichtbar sein. Das hatte ich mir vorgenommen an diesen Tagen.” (Scheuring 2020, S. 49)

Als ihr Bericht über die unzumutbaren Zustände in einem ortsansässigen Schlachthof nicht in der Schülerzeitung veröffentlicht wird, entschließt sich Nora zu handeln: Mit einer Blockadeaktion will sie die Öffentlichkeit auf die tierquälerische Massentierhaltung und die damit verbundene profitorientierte Fleischproduktion aufmerksam machen und wachrütteln. Obwohl das Gericht die positive Absicht hinter Noras Handlungen erkennt, wird sie zu Sozialstunden verurteilt. Durch die Vermittlung einer Meeresschutzinitiative kann sie ihre Strafe als Observer auf dem Fischtrawler einer deutschstämmigen Familie an der kanadischen Ostküste ableisten.

Zuvor wird sie noch von der Aktivistin Sarah “eingenordet”, die Fischer allesamt “Mörder” nennt und zu Feinden erklärt: Keinesfalls nett sein, keinesfalls die Männer bedienen, sondern sie beaufsichtigen und niemals Angst zeigen: “Wer Angst hat, rüttelt nicht an der Macht. Angstordnet sich unter. Emanzipation heißt als Allererstes, dass wir unsere Ängste überwinden. […] Frei sind wir nur, wenn wir unser Leben nicht bestimmen lassen durch unsere Ängste.” (ebd. S. 143)

In Kanada will keiner der drei Generationen umfassenden Crew die Observer-Kontrolle und besonders der junge Kapitän Johan Meinart lässt sie seine Ablehnung schon bei ihrer Ankunft sehr deutlich spüren.

Dann aber geraten sie schon bei ihrer ersten Ausfahrt in einen gewaltigen Sturm, der den Wendepunkt markiert. In dem nun folgenden Überlebenskampf prallen die unterschiedlichen Sichtweisen auf Umwelt, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und die Fischerei aufeinander.

Scheuring gibt in einer klug gewählten Erzählweise Johan und vor allem seinem fast 100jährigen Großvater eine nachhallende Stimme. Und so bekommen nicht nur Nora, sondern auch die Leserschaft einen tiefen Einblick in die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fischerei. Sie ist durch die rücksichtslose Ausbeutung der Natur und der Meere ebenso gekennzeichnet, wie durch die Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll und Quoten- und Lizenzverordnungen, die die Fischer in die Illegalität treiben oder ruinieren. Aus Noras Perspektive schildert der Autor, wie die Männer einen riesigen Schwertfisch in einem stundenlangen Prozedere aus dem Meer holen und unter Aufbietung aller Kraft töten. Geschockt, aber zugleich fragend und reflektierend diskutieren Johan und Nora anschließend lange noch über die Natur, den Tod und das Leben und ob der Mensch das Recht hat (als Teil der Natur) Tiere zu töten.

Als der Großvater mitten im tosenden Sturm an Deck geht und nicht zurückkommt, fühlt sich Nora wie ein “hilfloser Spielball von etwas, das viel stärker ist als ich selbst, und das Einzige, was ich tun kann, ist vertrauen: dass die Zeit zum Sterben noch nicht gekommen ist. […] Sogar die Zeit scheint nicht mehr zu existieren in dieser Hölle.” (ebd. S. 204) Gerade noch können sich Johan und Nora auf ein kleines Ruderboot retten, bevor das Schiff versinkt. In dieser lebensbedrohlichen Situation auf hoher See – meilenweit von einer Küste entfernt, mit wenigen Vorräten und dem Sturm ausgeliefert – sind sie aufeinander angewiesen und wissen, dass sie das nur gemeinsam überleben können: Durch Johans nautisches und seemännisches Wissen (vom Autor fundiert recherchiert und präzise beschrieben) und Noras zupackender tatkräftiger Art können sie es schaffen. So entsteht eine intensive Vertrautheit zwischen den beiden, die durch Scheurings Erzählkunst niemals ins Melodramatische oder gar Kitschige abdriftet.

Die Mehrdeutigkeit des Titels ist dabei Programm: Das Unwetter auf hoher See versinnbildlicht die wachsende Beziehung zwischen Nora und Johan. Die Unberechenbarkeit des Meeres symbolisiert die sich so plötzlich verändernden Rahmenbedingungen in Noras Leben. Während ihr persönliches Koordinatensystem sie vor einer Woche noch verlässlich in den Kategorien “Gut und Böse” gelenkt hat, gibt es auf einmal keine einfachen Antworten mehr auf existenzielle Fragen des Lebens.

Aus Noras Perspektive erzählt Scheuring, wie sich die Beziehung zwischen den beiden sich entwickelt und aus den schroffen Wortgefechten tastende Annäherungen werden bis hin zu einer Vertrautheit, die an die Zeile “He shares the secrets of my soul” aus dem berühmten Song “Bobby McGhee” von Janis Joplin erinnert.

Mit einer geschickt inszenierten, teilweise atemberaubend spannenden, Handlungsdramaturgie entwirft Scheuring eine Entwicklungsgeschichte, die zugleich die Bedeutsamkeit von Klima- und Tierschutzaspekten facettenreich aufzeigt. In den kontroversen Gesprächen zwischen Nora und Johan wird nicht nur deutlich, wie es um die moderne Fischerei bestellt ist, sondern wie schwierig eine eigene differenzierte Standortbestimmung ist. Dass dafür Beziehungen jenseits der Heteronormativität eine Rolle spielen, spiegelt sich auch in den sensibel dargestellten Gefühlen zwischen Nora und der feministischen Umweltschützerin Sarah wider.

Am Ende dieser aufregenden Heldinnenreise führt der Autor seine Leserinnen und Leser mit einer Pointe zurück an den Anfang der Geschichte oder in ihr eigenes echtes Leben, in dem es wie im Roman eben nicht nur Schwarz und Weiß oder Gut und Böse gibt.

So knüpft der Roman nicht nur an aktuelle Diskurse an, sondern bietet eine Fülle von Impulsen und Fragestellungen für wichtige und bedeutsame Anschlussdiskussionen zu den verhandelten Themen an.